On-Chain-Governance: Innovative Basisdemokratie oder Oligarchie im neuen Gewand?
Dezentrale, autonome Organisationen (DAO) erfreuen sich wachsender Beliebtheit: Statt sich klassischen Strukturen zu fügen, setzen immer mehr Protokolle die gesamte Geschäftsführung mittels basisdemokratischer Entscheide um. Doch was nach Freiheit und Fortschritt klingt, bringt zu oft die unschönen Seiten der menschlichen Psychologie ans Licht.
Unternehmen auf der Blockchain
Das Konzept einer DAO existiert schon seit vielen Jahren im Krypto-Markt. Bereits 2016 wurde die erste bedeutsame DAO für die Ethereum-Governance gegründet. Doch die kambrische Explosion der DAO setzte erst im Zuge des DeFi-Sommers im Jahr 2020 ein. Zu dieser Zeit bestand der Krypto-Markt nicht mehr bloß aus Zukunftsmusik.
Von Ideen zu Produkten
Viele Projekte, wie zum Beispiel Uniswap oder AAVE, hatten sich von Ideen und Plänen zu funktionsfähigen Produkten entwickelt. Solche On-Chain-Protokolle sind keinesfalls statische Konstrukte. Entwicklung und Wartung hören nach der On-Chain-Bereitstellung nicht einfach auf. Der Krypto-Markt ist nämlich von sozioökonomischen Systemen bevölkert, die sich sowohl an die ständig verändernden Marktbedingungen als auch an die Wünsche ihrer Anspruchsgruppen anpassen müssen.
Verwaltung und Weiterentwicklung solcher On-Chain-Unternehmen setzen also die Kooperation und Organisation von Menschen voraus. Daher stellt sich die Frage, warum sie nicht einfach auf altbekannte Strukturen zurückgreifen und sich wie klassische Unternehmen organisieren? Tatsächlich sind die ersten Entwickler von Protokollen oft als LLC, GmbH oder vergleichbares Vehikel organisiert. Worauf klassische Unternehmensstrukturen aber keine Antwort liefern, ist die neuartige Form der Kapitalbeschaffung, die der Krypto-Markt hervorgebracht hat.
Innovative Finanzierung
Im Zuge der sogenannten Tokenisierung erstellt ein angehendes Protokoll einen Kryptowert und veräußert diesen, hauptsächlich über dezentrale Kryptobörsen, an interessierte Investoren. Diese Einnahmen finanzieren u. a. Entwicklungs- und anfängliche Betriebskosten. Doch diese Kryptowerte bzw. Token sind letztlich nichts als auf der Blockchain gespeicherte Zahlenfolgen und beinhalten im Gegensatz zu Unternehmensanteilen keinerlei Rechtsansprüche. Außerdem sind die ursprünglichen Entwickler und das bereitgestellte Protokoll oftmals klar getrennte Entitäten. Wer besitzt also das Protokoll? Wer lenkt das Ruder? Der Krypto-Markt hat diese Fragen mit dem Konzept der „On-Chain-Governance“ beantwortet.
Demokratie bei der On-Chain-Governance
Die On-Chain-Governance-Definition ist im Prinzip sehr einfach: Der Besitz bestimmter Kryptowerte erlaubt einer Blockchain-Adresse, an der Verwaltung und Führung eines Protokolls per direkter Basisdemokratie teilzunehmen. Praktisch läuft es darauf hinaus, dass ein Investor sich mit seiner Blockchain-Adresse auf der Webseite des Protokolls einwählt, zur Liste der anstehenden Geschäftsentscheidungen navigiert und seine Stimme abgibt, meist binär [Ja oder Nein]. Dazu existiert typischerweise noch ein Forum, in dem neue Entscheidungen vorgeschlagen und anstehende Entscheidungen im Detail diskutiert werden.
Welche Entscheidungen die Governance-DAO konkret vornehmen darf, hängt vom Projekt ab. Viele Erstentwickler ziehen es allerdings vor, der DAO die vollständige Kontrolle über das Protokoll zu übergeben, u. a. auch um von US-Behörden nicht wegen des unerlaubten Vertriebs von Wertpapieren („Securities“) angeklagt zu werden.
Im Westen nichts Neues
In der Theorie klingt das alles geradezu utopisch: eine inklusive, offene und demokratische Form der Geschäftsführung, in der jede Stimme zählt. Doch bei näherer Betrachtung sieht die Realität wesentlich ernüchternder aus. Es fängt bereits damit an, dass die On-Chain-‚Demokratie‘ mit dem modernen Demokratieverständnis nur sehr wenig gemeinsam hat.
Stattdessen ist es passender, einen Vergleich mit der US-amerikanischen Demokratie zur Zeit der Revolution zu ziehen, in der sich Stimmrechte aus dem Landbesitz ableiteten. In der On-Chain-Version dieser Struktur gilt nämlich nicht „ein Individuum, eine Stimme“, sondern „ein Governance-Token, eine Stimme“. In dieser Hinsicht überschneidet sich die On-Chain-Governance mit der Struktur von klassischen Aktiengesellschaften, in welchen Großaktionäre einen dem modernen Demokratieverständnis nach überproportional großen Einfluss auf die Geschäftsführung ausüben. Da die Kryptowerte auf dem freien Markt gehandelt werden, gehören, wie in traditionellen Märkten, die meisten Stimmen denjenigen, die über das meiste Kapital verfügen. Die Reichen regieren, während der Rest regiert wird. Alte Gewohnheiten lassen sich wohl nur schwer abschütteln.
In der Praxis sieht es sogar noch schlimmer aus. Ein Projekt benötigt Mittel, damit es überhaupt erst einen Kryptowert auf den Markt bringen kann. Diese Mittel werden typischerweise bei professionellen bzw. institutionellen Geldgebern eingeholt und im Gegenzug reservieren die Erstentwickler diesen Geldgebern Allokationen des Governance-Tokens für einen Bruchteil des initialen Marktpreises. Außerdem sichern sich die Erstentwickler 10‒30% der existierenden Governance-Token als weitere Finanzierungsquelle für Entwicklungs- und anfängliche Betriebskosten des Protokolls. Unter Umständen kann diese Allokation ebenfalls für Abstimmungen verwendet werden.
In solch einer Dynamik haben Kleinanleger kaum eine Chance auf Mitbestimmung. An dieser Stelle könnte der Artikel mit einer Wutrede über die Oligarchie im neuen Gewand beendet werden. Eine „gerechtere“ Verteilung der Stimmen könnte zu besseren Protokollen führen. Zumindest ist das eine schöne Wunschvorstellung. Aber in ihrer heutigen Form leiden DAOs auch an einer weiteren Krankheit.
On-Chain-Governance oder die Krankheit der kurzfristigen Anreize
Die hohe Liquidität und fehlenden Rechtsansprüche bei Governance-Kryptowerten sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits schulden die Entwickler dem Großteil ihrer Kapitalgeber keinerlei Rechenschaft, andererseits erstreckt sich das Fehlen der Rechenschaft auch auf die Halter der Governance-Kryptowerte. Solange der Markt bullish bleibt, funktioniert die On-Chain-Governance gut. Partnerschaften werden beschlossen, Marketingpläne abgenommen und die Entwicklung neuer Features verabschiedet.
Doch wie das Jahr 2022 deutlich macht, kann die Stimmung im Krypto-Markt auch schnell umschlagen. Anstelle des freudigen Miteinanders tritt Panik ein und jeder ist sich selbst der Nächste. Investoren, die 50%, 70% oder gar über 90% ihres Vermögens innerhalb weniger Monate verloren haben, sind plötzlich nicht mehr so stark am langfristigen Erfolg ihrer Investments interessiert.
Herrschaft des Mobs
Auf den Governance-Foren finden dann Vorschläge große Zustimmung, die in der realen Welt für Haarsträuben sorgen würden. So schlägt zum Beispiel eine GameFi-DAO vor, das Investment eines institutionellen Geldgebers zurückzuerstatten, da dieser angeblich keinen Mehrwert liefert. Das Problem: der Investor hat mit der juristischen Entität der DAO, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einen rechtskräftigen Vertrag geschlossen, in dem klar definiert ist, dass es sich um ein rein finanzielles Geschäft handelt. In der Zwischenzeit hat sich der Wert des initialen Investments um weit mehr als das Zehnfache gesteigert.
Zwar haben einige DAO-Mitglieder ihre Zweifel darüber geäußert, ob vertragliche Bindungen einfach so für null und nichtig erklärt werden dürfen, doch die Mehrheit bewertet den effektiven Vertragsbruch als einen vernünftigen Schritt. Im Endeffekt findet eine außergerichtliche Einigung statt und der institutionelle Investor gibt sich mit 33% der ihm zustehenden Kryptowerte zufrieden.
In einem anderen Beispiel kommt der wichtigste Kunde eines Kredit-Protokolls auf der Solana-Blockchain relativ nah an die Zwangsliquidierung. Der erzwungene On-Chain-Abverkauf würde aufgrund des hohen Volumens zu Kaskadeneffekten führen, was wiederum eine Bedrohung für das Kapital der anderen Benutzer bzw. Kunden darstellt. Nach fruchtlosen Kontaktversuchen beschließt die geschäftsführende DAO mit einer Zustimmung von 97,5%, den betroffenen Account kurzerhand zu enteignen, um die Positionen manuell zu liquidieren. Die Befugnis zur Übernahme von privaten Konten stand weder in den AGB noch wurde solch ein Vorgang überhaupt je zuvor ausgeführt.
Was sich also zunächst nach gelungenem Risikomanagement anhört, ist tatsächlich ein folgenschwerer Präzedenzfall. Zwar wurde dieser Beschluss in einer nachfolgenden Abstimmung wieder zurückgenommen. Doch wie weit dürfen die Befugnisse der On-Chain-Governance reichen? Welche Rechtssprechung gilt? In den allermeisten Fällen bleiben diese Fragen unbeantwortet, während die Nutzer der Willkür ausgesetzt sind.
On-Chain-Governance: Aller Anfang ist schwer
Dieser Artikel malt ein düsteres Bild von der On-Chain-Governance, aber alle Anfänge sind schwer. Die ältesten Unternehmen der Welt sind über tausend Jahre alt, die älteste DAO der Welt ist noch nicht einmal zehn. Wie der Krypto-Markt ist auch die On-Chain-Governance dynamisch und in ständiger Weiterentwicklung. Die existierenden Probleme sind bekannt und es wird vielerorts an Lösungen gearbeitet. Beispielsweise arbeitet die Polkadot-Blockchain an einer repräsentativen On-Chain-Governance, die sowohl die Oligarchie als auch die Herrschaft des Mobs verhindern soll. Das Layer-2-Protokoll Optimism orientiert sich wiederum am „Checks & Balances“-Modell und implementiert mehrere Governance-Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren, damit der langfristige Erfolg des Protokolls stets die oberste Priorität bleibt. Die Organisationsformen von Menschen in der realen Welt sind ausgereift und seit Jahrtausenden erprobt, aber die Organisation von Menschen in der virtuellen Welt steckt noch in den Kinderschuhen. Insgesamt ist es also berechtigt, Kritik am Status quo zu äußern, doch keinesfalls sollte das Konzept der On-Chain-Governance als grundsätzlich ungeeignet bewertet werden.
Perspektive der Investoren
Bei F5 Crypto Capital stehen wir der On-Chain-Governance optimistisch gegenüber und haben bereits in etliche erfolgversprechende Governance-Kryptowerte investiert. Besonders interessant für uns ist die Tatsache, dass im Zuge der On-Chain-Governance beschlossen werden kann, den Wert des Governance-Tokens zu steigern. So hat beispielsweise die Stargate DAO kurz nach unserem Investment in den STG-Kryptowert den Beschluss gefasst, einen Teil der Protokollgebühren an STG-Halter abzuführen, worauf der Preis des STG-Kryptowertes signifikant gestiegen ist. Weiterhin sehen wir bei F5 Crypto Capital enormes Potenzial bei innovativen Governance-Konzepten. Unter anderem gehört deshalb DOT, der Governance-Kryptowert der Polkadot Blockchain, zu unserem langfristigen Portfolio.