Ethereum: Koordination statt Durchsetzung
Wie schafft es Ethereum seit über sechs Jahren führend zu bleiben, während unzählige Konkurrenten kurzzeitig aufflammen, nur um wenig später wieder in der Irrelevanz zu verschwinden?
Mehr als eine Blockchain
Die Vorreiterrolle, die Zuverlässigkeit und die technische Exzellenz der ersten programmierbaren Blockchain sind typische Gründe zur Erklärung von Ethereums langfristigem Erfolg. Dennoch ist die Technologie das Produkt menschlicher Arbeit — wie schafft es Ethereum dauerhaft so produktiv zu sein?
Softwareentwicklung ist komplex: Bei den meisten großen Projekten koordinieren Unternehmen Tausende Entwickler in hierarchischen Strukturen. Ethereum hingegen ist kein Unternehmen, nicht einmal eine zusammenhängende Organisation. Keine Geschäftsführung verfügt über Weisungsbefugnis gegenüber den Entwicklern. Dennoch arbeiten gegenwärtig über 5.000 Softwareingenieure an Entwicklung und Wartung. Hierin liegt der Kern von Ethereums Erfolg.
Eine „Organisation“, die gar keine ist, koordiniert mit „unsichtbarer Hand“ unabhängige Entwicklerteams rund um den Globus und erreicht dabei mehr als die meisten Tech-Unternehmen. Die Kompetenz, ein loses und verteiltes Netzwerk aus Menschen und Maschinen zielführend abzustimmen, gehört zu den größten Stärken von Ethereum.
Bottom-Up statt Top-Down
Offenheit und Transparenz sind grundlegende Werte der Ethereum-Community. Bei der Entwicklung des Netzwerks orientiert sich die Gemeinschaft nicht an Anweisungen von oben, sondern an Vorschlägen von unten. Dadurch hat sich eine klare Bottom-Up-Kultur etabliert. Doch wer genau bildet diese „Ethereum-Community“?
Dezentraler als eine DAO
Die Ethereum-Community umfasst all jene, die zu Ethereum beitragen oder daran teilhaben. In erster Linie arbeiten Softwareingenieure oft in kleinen, unabhängigen Teams. Darüber hinaus umfasst die vielfältige Gemeinschaft auch Forscher, Unternehmer, Investoren und Interessengruppen, die sich anderweitig mit dem Ethereum-Netzwerk beschäftigen. Technisch gesehen kann ich mich spätestens nach Veröffentlichung dieses Textes ebenfalls als Teil der Ethereum-Community bezeichnen.
Es zeigt sich das Bild einer Gemeinschaft, die in ihren Interessen und vor allem ihrer Organisation noch stärker verteilt ist als eine DAO. Wie organisiert sich eine Gemeinschaft, wenn formelle Entscheidungsstrukturen bewusst vermieden werden?
Die Kraft der EIP
Informell bedeutet nicht formlos. Ein zentrales Kommunikationsmittel in der Ethereum-Community stellen die unscheinbar klingenden „EIP“ dar. Das Kürzel EIP steht für „Ethereum Improvement Proposal“ — also Verbesserungsvorschläge. Jeder ist herzlich eingeladen, EIP zu erstellen und der Community vorzustellen. Ein solcher Vorschlag sollte den technischen Hintergrund, das Ziel, die Auswirkungen und die Implementierungsdetails der vorgeschlagenen Verbesserung klar beschreiben. EIP zielen primär darauf, das Protokoll technisch zu verbessern. Es gibt auch „Meta“-EIP für Verbesserungen der Struktur des Entwicklungsprozesses selbst und „informationelle“ EIP für informative Inhalte.
Eine zentrale Einreichstelle für EIP besteht nicht; auch kein spezifiziertes Verfahren regelt die Genehmigung der Vorschläge. EIP werden zunächst im lokalen Umfeld präsentiert. Dabei ist unerheblich, ob der Vorschlag in einem Forum, über soziale Medien oder physisch im Rahmen einer Konferenz vorgestellt wird. Anschließend wird in einem teils chaotisch anmutenden Prozess das EIP basierend auf direktem Feedback kontinuierlich verbessert. Einige EIP erhalten dabei immer mehr Aufmerksamkeit, wohingegen weniger sinnvolle Verbesserungsvorschläge im Sande verlaufen. EIP werden in ihrem finalen Zustand mit Nummern versehen, wie zum Beispiel der EIP-4844. Diese Nummern werden nicht von einer zentralen Stelle vergeben. Stattdessen handelt es sich lediglich um eine eindeutige Zuordnung des EIP im EIP-Github , die von der Person bestimmt wird, die das EIP dort einstellt.
Nach zahlreichen Iterationen und Diskussionen bildet sich in der Community sozialer Konsens bezüglich eines EIP. Unterstützen ausreichend viele Community-Mitglieder den Vorschlag, wird der Status des EIP als „akzeptiert“ bezeichnet. Erst dann wird die konkrete Umsetzung in den Ethereum-Quellcode integriert.
Ist diese Beschreibung des „Genehmigungsverfahrens“ schwammig? Definitiv. Insbesondere da eine formelle Genehmigung nie stattfindet. Selbst ein „akzeptiertes“ EIP ist nicht verbindlich. Letztendlich entscheidet jeder Knoten im Ethereum-Netzwerk selbst, ob er an der aktuellen Version des Netzwerks teilnehmen möchte. Wenn ausreichend viele Knoten die Aktualisierung des Protokolls ablehnen, kommt es zu einem Hard-Fork.
Fördern statt Fordern
Über der chaotischen, aber produktiven Vielfalt des gemeinschaftlichen Entwicklungsprozesses steht die Ethereum Foundation. Die Stiftung ist so alt wie Ethereum selbst und hat bei der Inbetriebnahme des Netzwerks eine Allokation in der Höhe von knapp 40 Millionen ETH erhalten, von der sie sich und andere bis heute finanziert. Laut den offiziellen Ethereum-Wallets der Stiftung sind im Mai 2023 noch 318.000 ETH übrig. Zum Vorstand der Stiftung gehören prominente Entwickler und natürlich auch Vitalik Buterin. Die Ethereum Foundation versteht sich als graue Eminenz, beschreibt sich auf ihrer Webseite als „Gärtnerin eines endlosen Gartens“. So wirkt die Stiftung als Unterstützerin und Förderin des Ethereum-Netzwerks, ohne eine tatsächliche Führungsposition einzunehmen.
Die Ethereum Foundation betreibt ein Förderprogramm für ausgewählte Projekte im On-Chain-Ökosystem des Protokolls. Auch vergibt sie jährlich Stipendien, vor allem an außergewöhnliche Individuen aus strukturschwachen Regionen. Zudem organisiert und finanziert sie die DevCon, eine der größten Entwicklerkonferenzen im Bereich Blockchain. Selbstverständlich finden jedes Jahr zahlreiche Konferenzen zu Ethereum statt. Die größte Konferenz dieses Jahr, ETHDenver, wurde beispielsweise von einer DAO profitabel umgesetzt, die von der Ethereum-Community gegründet wurde, ohne Einbeziehung der Ethereum Foundation. Zuletzt ist noch die Enterprise Ethereum Alliance zu erwähnen. Mit diesem internationalen Wirtschaftsverband zur Förderung der Ethereum-Blockchain bemüht sich die EF nicht nur Endnutzer und Entwickler anzusprechen, sondern auch institutionelle Unterstützer mit ins Boot zu holen.
Professionalität auf institutionellem Niveau
Ein wesentlicher Beitrag der Ethereum Foundation ist die halboffizielle Website des Netzwerks, www.ethereum.org. Die Stiftung finanziert das Kernteam und die Betriebskosten, während die meisten inhaltlichen Beiträge von Freiwilligen verfasst werden. Die informative Webpräsenz des Protokolls ist eine gelungene Mischung aus informellen, gemeinschaftlichen Bemühungen und gezielter Förderung an kritischen Stellen.
Die Website wirkt sehr locker, freundlich und hat einen künstlerischen Touch. Die komplexen und sich oft verändernden technischen Inhalte werden dennoch gut strukturiert und in einer klaren sowie umgänglichen Sprache dargelegt. Sie beantwortet nahezu alle offensichtlichen Fragen für Neulinge, bietet aktuelle technische Spezifikationen für Entwickler und liefert weiterführende Informationen für institutionelle Interessenten. Das gelungene Design im Stil minimalistischer Avantgarde wird konsequent über alle Sub-Domains hinweg durchgezogen, sodass Ethereum nach außen hin eine professionelle Corporate Identity präsentiert.
Die Webpräsenz ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine „Organisation“, die gar keine ist, eine internationale Community wie von Zauberhand steuern kann: Der chaotische Enthusiasmus einer wachsenden Gruppe von Menschen wird an strategischen Stellen in die richtigen Bahnen gelenkt. „Führung“ bei Ethereum heißt nicht Durchsetzung, sondern Koordination.
So resultiert ein Produkt, das rundum problemlos mit den besten Angeboten globaler Konzerne mithalten kann. Ethereums Fähigkeit, freundlich und locker zu bleiben, während gleichzeitig höchste institutionelle Qualitätsstandards geradezu mühelos erfüllt werden. Dies zählt zu den Gründen, warum wir ETH bei F5 Crypto nicht nur bereits seit Jahren halten, sondern voraussichtlich noch lange halten werden.